Es begab sich also zu der Zeit, da im Frühjahr des Jahres 2016 eine Delegation des japanischen Kunitachi College of Music Tōkyō um Professorin Mayumi Miyata an die Hochschule für Musik Karlsruhe kam, um den jungen deutschen Komponisten ein ganz besonderes Instrument näherzubringen: Die Shō.
Die Shō, oder im original japanischen Kanji geschrieben 笙, ist ein japanisches Instrument, welches in der Gagaku-Musik, der traditionellen höfischen Musik Japans, Verwendung fand.
Eine Windkapsel, 17 Bambuspfeifen und (bei einer modernen Shō) ebenso viele Metallzungen bilden die Hauptbestandteile des Instrumentes, dessen Klang für unsere Ohren vielleicht noch am ehesten wie eine Mischung aus Orgel und Akkorden beschrieben werden kann. In jeder der Pfeifen ist ein kleines Loch, das, wenn es vom Finger des Spielenden verschlossen wird, der Luft in der Pfeife erlaubt zu schwingen und damit einen Ton hervorbringt.
Die beiden Kleinen Finger sowie der Mittelfinger der rechten Hand werden nicht verwendet, sodass Akkorde mit bis zu maximal sieben Tönen gespielt werden können. Doch jeder Finger hat seine ganz spezifischen Positionen, sodass Akkorde nicht wie bei Tasteninstrumenten, zum Beispiel einer Orgel, recht frei gewählt werden können, sondern vom Komponisten der Spielhaltung entsprechend genau überdacht werden müssen. Dies dürfte wohl erst einmal einer der schwierigsten Faktoren sein, möchte man für Shō komponieren.
Die Delegation um die weltbekannte Shōistin und Professorin am Kunitachi College of Music Mayumi Miyata vermittelte uns also in einem zweitägigen und äußerst intensiven Meisterkurs alles, was es zu diesem Instrument zu wissen gibt – und dies gleichzeitig unter der Prämisse eines Austausches, in dem vier deutsche Studierende ein Stück für Shō (mit oder ohne Ensemble) schreiben und ein Jahr später zu dessen Einstudierung und Uraufführung nach Japan reisen sollten.
Schon bald wurde klar, dass man zwar gespannt war welchen Zugang die deutschen Studenten wohl zu diesem fremden Instrument haben würden, jedoch auch immer, ganz im Zeichen der japanischen Höflichkeit, zarte und doch bestimmte Anmerkungen zu ›Dos and Don’ts‹ beim Komponieren für Shō eingestreut wurden.
In der Gagaku-Musik spielt die Shō traditionellerweise sehr lange gehaltene Töne und Akkorde. Dies ist möglich, da die Zungen der Pfeifen beim Ein- und Ausatmen schwingen können und so eine nahezu ununterbrochene Klangfläche erzeugt werden kann. Nachdem uns also subtil mitgegeben wurde, vielleicht doch nicht all zu provokativ zu schreiben, ging es in den folgenden Monaten daran, sich ein Konzept zu überlegen.
Das bot mir eine ganz besondere Herausforderung, da ich für mich beschlossen hatte, die Tradition der Shō wahren zu wollen und, für mich ebenfalls eher ungewöhnlich, harmonisch vorzugehen. Dies kam nicht zuletzt dadurch zustande, dass auf diesem Instrument von mir sonst so geliebten Geräuschklänge nur geringfügig vorhanden sind.
Der silbern-scharfe Klang der Shō in Verbindung mit ihrer linienhaften Funktion in der Gagaku-Musik ließ in meinem Kopf schnell das Bild eines dünnen, langen und gespannten Gegenstandes, etwa eines Fadens oder einer Saite entstehen. Nicht ohne Grund lautet der Titel des aus diesem Projekt entstandenen Sückes -strained- , zu deutsch ›gespannt‹.
Eng verknüpft mit dem Bild einer Saite ist auch im physikalischen Sinne eine spektrale Harmonik, besteht doch die Obertonreihe aus ganzzahligen Vielfachen der Grundfrequenz, also der Länge der Saite.
Ein guter Anlass für mich also, um mich einmal selber etwas näher mit spektraler Harmonik zu beschäftigen und diese zu einem elementaren Grundstein meines Stückes werden zu lassen.
Nun birgt das Komponieren für Shō wie bereits erwähnt ja manche Schwierigkeiten: Die spektrale Klangcharakteristik kommt insbesondere durch die mikrotonalen Abweichungen von unserer temperierten Stimmung zustande, was die uns vertrauten Intervalle ganz neu erklingen lässt. Die klassische Shō jedoch ist genau wie unsere westlichen Instrumente rein gestimmt und lässt mikrotonal veränderte Töne ebenso wenig zu, wie es beispielsweise eine Kirchenorgel täte. Das bedeutet, dass der Shō im Stück nur „reine“ Töne oder Töne mit vernachlässigbarer Abweichung wie etwa von 3ct zugeteilt werden können. Demenstprechend musste nun der Rest des Ensembles die Töne mit größeren Abweichungen übernehmen.
Um die Fülle des Spektrums bei der relativ geringen Größe des Ensembles voll ausschöpfen zu können, werden von den Streichern oftmals Doppelgriffe verlangt. Gerade bei den tieferen Instrumenten wie Violoncello und Kontrabass erscheinen zudem noch recht häufig natürliche oder künstliche Flageoletts, um das im Stück immer wieder auftretende „Basisspektrum“ zwischen dem 16. Teilton (d’’’) und dem 24. Teilton (a’’’) erreichen zu können.
Die Shō wiederum bleibt in -strained- ihrer Tradition mit einer durchgehend akkordischen beziehungsweise monodische Linie treu, die in den 91 Takten vor Einleitung der Schlussperiode von insgesamt nur knapp 7,5 Zählzeiten Pause aufgebrochen wird.
Erste Skizzen, die in meinem Fall eher eine auf Worten basierende Konzeptbeschreibung waren, sollten wir bereits im Juni des gleichen Jahres nach Japan senden, damit diese dann dort von Professor Miyata genauer unter die Lupe genommen werden konnten, um eine erste Eindruck unserer Stücke und der benötigten Ressourcen bekommen zu können. Im September war dann die Abgabefrist der Stücke – sehr zeitig, sollte die Uraufführung doch erst ende Januar des folgenden Jahres stattfinden.
Hierbei wurden alle vier Stücke noch einmal genauestens von Frau Miyata auf die Spielbarkeit des Shō-Partes überprüft und etwaige Probleme in detaillierter Auflistung per Mail an den Komponisten/die Komponistin zurück geschickt.
Die Verwendung der Shō mag in meinem Stück vielleicht als ›konservativer‹ beschrieben werden, jedoch machte sich diese Haltung hier bezahlt – denn an meinem Stück wurden keine die Shō-Stimme betreffenden Schwierigkeiten festgestellt. Und doch galt mein Stück am Ende als das Schwerste und man begann in den darauffolgenden Monaten mit den zweifellos intensiven Proben.